35

 

Rio fuhr wie ein Wahnsinniger.

Er legte all seine mentale Energie in seinen Kontakt zu Dylan, versuchte, sie wissen zu lassen, dass er ihr zu Hilfe kam. Dass er sie finden oder bei dem Versuch sterben würde.

Er raste die Route 129 entlang und hoffte, dass er Dylan näher kam.

Er konnte es in seinem Blut spüren, dass er jetzt nicht mehr weit von ihr entfernt war. Ihre Blutsverbindung rief ihn, drängte ihn weiter, mit einer Gewissheit, dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis er sie gefunden hatte.

Und dann ...

Als eine dunkle Limousine aus entgegengesetzter Richtung die Straße hinaufgerast kam, explodierte etwas in Rios Venen wie Feuerwerkskörper.

Madre de Dios.

Dylan war in diesem Wagen.

Rio riss hart das Steuer herum, ließ den Wagen seitlich wegschliddern und blockierte so die Straße, bereit, bis zum Tod für Dylan zu kämpfen. Die Bremsen der heranrasenden Limousine quietschten, ihre Reifen rauchten auf dem Asphalt. Sie kam mit einem Ruck zum Stehen, und der Fahrer - so wie der hünenhafte Kerl am Steuer aussah, war er ein Mensch - legte eine scharfe Rechtskurve hin und jagte dann eine dunkle, alleegesäumte Zufahrtsstraße hoch.

Mit einem Fluch auf den Lippen warf Rio den Gang ein und fuhr ihnen nach.

Weiter oben donnerte die Limousine durch eine provisorische Straßenabsperrung und legte dann eine Vollbremsung hin. Zwei Personen kletterten vom Rücksitz - Dylan und der Vampir, der sie entführt hatte. Der Mistkerl drückte ihr eine Kanone unters Kinn, während er sie die stille Straße hinauf ins Dunkel zerrte.

Rio hielt den Wagen an und sprang vom Fahrersitz, seine eigene Waffe gezogen und auf den Kopf ihres Entführers gerichtet. Aber er konnte nicht schießen. Das Risiko, Dylan zu treffen, war zu groß, er wollte es nicht eingehen. Nicht dass ihm viel Zeit geblieben wäre, darüber nachzudenken.

Der hünenhafte Bodyguard, der am Steuer der Limousine gesessen hatte, kam um den Wagen herum und begann, auf Rio zu schießen.

Eine Kugel fuhr ihm in die Schulter, sengend heißer Schmerz durchzuckte ihn. Er schoss weiter auf Rio und versuchte, ihn mit einem erbarmungslosen Kugelhagel zurückzudrängen.

Rio wich dem Angriff aus, und mit all den Stammesfähigkeiten, die ihm zu Gebote standen, machte er einen riesigen Satz auf den Mann zu und warf ihn zu Boden. Es war ein Lakai, wie Rio erkannte, als er ihm in die leeren Augen sah. Er packte den Mistkerl mit einer Hand am Hals, legte ihm die andere Hand auf die Stirn und schickte all seine Wut in seine Fingerspitzen.

Manos del diablo.

Der Lakai war sofort tot.

Die Leiche ließ er mitten auf der Straße liegen und ging zu Fuß weiter, um Dylan zu suchen.

Dylan stolperte neben ihrem Entführer her, den harten, kalten Druck einer Pistolenmündung unter ihr Kinn gerammt. Sie konnte kaum ausmachen, wohin er sie brachte, aber irgendwo, nicht weit entfernt, war das Donnern eines Wasserfalls zu hören.

Und dann Maschinengewehrfeuer.

„Nein!“, schrie sie, als sie die scharfen Schüsse hinter sich in der Dunkelheit hörte. Sie spürte einen stechenden Schmerz und wusste, dass Rio eine Kugel abbekommen hatte. Aber er atmete noch. Gott sei Dank, er war noch am Leben. Versuchte immer noch, mit ihr in Kontakt zu bleiben durch die Hitze, die durch ihr Blut strömte.

Ein brutales Reißen an ihrem Kopf brachte Dylan wieder zu sich.

Der Vampir, der sie gepackt hatte, zwang sie, mit ihm zu rennen, den schmalen Asphaltstreifen hinauf und näher auf das Rauschen des Wassers zu.

Bevor sie sich's versah, liefen sie auf eine hohe Brücke. Auf einer Seite erstreckte sich ein Stausee scheinbar meilenweit. Das dunkle Wasser funkelte im Mondlicht. Und auf der anderen Seite gähnte ein jäher Abgrund von mindestens sechzig Metern.

Unten auf dem Abflusskanal schäumte weiß das Wasser und ergoss sich über die abschüssige Rinne und die riesigen Felsen hinunter, die sich bis nach unten zogen, wo das Wasser in einen reißenden Fluss mündete. Dylan starrte über das hohe metallene Brückengeländer und sah in all diesem tosenden Wasser einen sicheren Tod.

„Dragos.“

Rios Stimme drang vom Brückenkopf durch die Dunkelheit.

„Lass sie gehen.“

Mit einem Ruck brachte Dylans Entführer sie auf der Brücke zum Stehen. Er schwang sie herum, die Waffe immer noch gegen ihren Unterkiefer gedrückt. Sein leises Lachen vibrierte gegen sie, tief und hämisch.

„Sie gehen lassen? Habe ich nicht vor. Komm und hol sie dir.“ Rio tat einen Schritt auf sie zu, und die kalte Mündung der Waffe an Dylans Hals grub sich noch tiefer. „Leg deine Waffe nieder, Krieger. Sie wird hier sterben.“

Rio starrte ihn wütend an, seine Augen blitzten bernsteingelb. „Ich sagte, lass sie los, verdammt noch mal.“

„Runter mit der Waffe“, sagte ihr Angreifer. „Tu es jetzt. Oder wäre es dir lieber, ich reiße ihr den Hals heraus?“

Rios Blick suchte den Dylans. Sein Kiefer war fest zusammengepresst, seine Anspannung selbst in der Dunkelheit sichtbar. Mit einem gezischten Fluch legte er langsam seine Waffe auf dem Boden ab und stand wieder auf. „Okay“, sagte er vorsichtig. „Und jetzt lass uns das beenden, du und ich. Lass sie da raus, Dragos. Oder soll ich dich lieber Gerard Starkn nennen? Oder Gordon Fasso?“

Der Vampir kicherte amüsiert. „Ihr seid hinter meine kleine List gekommen, was? Macht nichts. Ihr seid etwa fünfzig Jahre zu spät dran. Ich war fleißig. Was mein Vater damit begann, indem er den Alten versteckte, führe ich zu Ende. Während der Orden seine Zeit damit vergeudet, Rogues auszulöschen, als könnten die wirklich etwas auf der Welt ausrichten, habe ich den Samen der Zukunft gesät. Viele Samen. Heute nennst du mich Dragos - bald wird die Welt mich ihren Herrn und Meister nennen.“

Zentimeterweise schob Rio sich näher an sie heran, und Dylans Entführer nahm die Waffe von ihrem Hals und richtete sie auf ihn. Dylan spürte, wie der Vampir seine Muskeln anspannte in dem Sekundenbruchteil, bevor er abdrückte, und sie ergriff die einzige Chance, die sie hatte. Sie ließ ihre Hand vorschnellen und traf ihn am Arm. Die Kugel pfiff an Rio vorbei in die Bäume.

Was dann geschah, hatte sie nicht kommen sehen.

Ihr Entführer riss seinen Arm hoch und ließ seine Faust gegen ihre Schläfe krachen. Die Wucht seines Schlages riss sie um, sie schlug hart auf dem Asphalt auf.

„Nein!“, schrie Rio.

Mit einer Geschwindigkeit und Beweglichkeit, die sie immer noch schockierten, sprang er in die Luft. Dragos nahm die Herausforderung an. Mit einem Aufbrüllen, das nichts Menschliches mehr an sich hatte, stürzten sich die beiden mächtigen Stammesvampire in einem verbissenen Zweikampf aufeinander.

Rio fiel Dragos' wahnsinnige Brut in blinder Wut an, die beiden schlugen in der Luft um sich, jeder kämpfte um die Chance, den anderen zu töten. Mit einem wilden Knurren schleuderte der Vampir Rio herum und schmetterte ihn gegen das eiserne Brückengeländer. Rio brüllte auf, stieß Dragos von sich herunter und schleuderte den Mistkerl bis zum anderen Ende der Brücke.

Er wusste nicht, wie lange der Kampf tobte. Keiner von ihnen war bereit aufzuhören, bevor der andere nicht tot war. Beide Vampire waren nun vollständig transformiert, ihre Fangzähne riesig, die Nacht erhellt vom bernsteinfarbenen Glühen zweier Augenpaare.

Irgendwie gelang es Dragos, sich freizumachen und aufs Brückengeländer zu springen. Rio folgte ihm und trieb den Scheißkerl endlich auf die Knie. Dragos schwankte, verlor über dem tosenden Abflusskanal unter ihnen fast das Gleichgewicht. Dann sprang er Rio an und traf ihn mit dem Kopf voll in den Bauch.

Rio fühlte, wie seine Füße auf dem Geländer den Halt verloren. Er taumelte, dann fiel er.

„Rio!“, schrie Dylan von der Brücke auf. „Nein!“

Eine halbe Sekunde später fiel auch Dragos. Aber wie Rio gelang es ihm, einen der Stahlträger des Brückenunterbaus zu packen, bevor er auf die Felsen und ins tosende Wasser stürzte.

Nun setzte sich der Kampf unter der Brücke fort. Beide hingen mit einer Hand an den Trägern hoch über dem tückischen Abgrund und schlugen sich mit der anderen. Rios Schulter brannte von der Kugel, die ihn getroffen hatte. Der Schmerz brachte ihn an den Rand eines Blackouts, aber er schüttelte ihn ab. All seine Wut, seinen Schmerz und die Angst, die er beim Gedanken, Dylan zu verlieren, ausgestanden hatte, richtete er ganz auf seine Aufgabe im Hier und Jetzt: Dragos' Sippe ein für alle Mal auszulöschen.

Und er konnte spüren, dass auch Dylan ihm Kraft gab.

Sie war in seinem Kopf und in seinem Blut, wohnte in seinem Herzen und seiner Seele und lieh ihm ihre eigene hartnäckige Entschlossenheit. Er absorbierte alles davon, setzte alles ein, was seine Blutsverbindung zu Dylan ihm gab, und versetzte Dragos einen weiteren harten Schlag. Sie hämmerten aufeinander ein, brüllten vor wilder Kampfeswut.

Da krachte ein Schuss über ihren Köpfen.

Beide sahen sie auf, und da war Dylan und hielt eine der Pistolen fest in beiden Händen. Sie senkte den Lauf und zielte auf Dragos.

„Das ist für meine Mutter, du Hundesohn.“

Sie drückte ab, aber Dragos war ein Stammesvampir und schneller, als sie erwartet hatte. In letzter Sekunde schwang er sich aus der Schussbahn und bekam weiter unten einen besseren Halt am Geländer. Sie folgte ihm, ließ ihn nicht aus den Augen. Als sie wieder abdrücken wollte, schoss eine seiner Hände zwischen den Stäben des Brückengeländers hervor und packte sie am Knöchel.

Sie fiel rücklings auf die Brücke. Rio hörte, wie der Aufprall ihr den Atem aus den Lungen presste, und sah mit Entsetzen, dass Dragos sie von unten auf den Brückenrand zuzerrte.

Sofort schwang Rio sich übers Geländer und auf die geteerte Fahrbahn hinauf. Er packte Dylans Arm mit der einen Hand und die fallen gelassene Pistole mit der anderen.

„Lass sie los“, befahl er Dragos und richtete die Waffe auf dessen Kopf. Es war schwer, einen Stammesvampir zu töten, aber ein Kopfschuss reichte im Allgemeinen aus.

„Du denkst, es ist vorbei, Krieger?“, spottete Dragos und ließ seine Fangzähne aufblitzen. „Das ist erst der Anfang.“

Und mit diesen Worten gab er Dylan frei und ließ sich fallen, fiel wie ein Stein in das strudelnde Wasser hinab. Der Abflusskanal verschlang ihn, und der Fluss darunter war pechschwarz, sodass es unmöglich war, dort noch etwas zu erkennen.

Dragos war fort.

Rio wandte sich Dylan zu und hob sie in seine Arme. Er hielt sie fest, voller Erleichterung, dass er ihre Wärme an sich spüren konnte. Er küsste sie und wischte ihr Blut und Kiessplitter aus dem Gesicht.

„Es ist vorbei“, flüsterte er und küsste sie wieder. Er starrte hinunter auf das schwarze Wasser unter der Brücke, sah aber keine Spur von Dragos in der reißenden Strömung. „Du bist bei mir in Sicherheit, Dylan.

Es ist alles vorbei.“

Sie nickte und schlang ihre Arme um ihn. „Bring mich nach Hause, Rio.“

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